16. Dezember 2021

Chaos im Kopf - Dein FASD Podcast

Intros profitieren also wegen der speziellen Organisation ihres Hirns, wenn sie ihre Zeit mit anderen und ihre Zeit allein für sich selbst passend abwechseln lassen.

Silvia Löhken in Leise Menschen – Starke Wirkung

Introvertierte sind menschenscheue Nerds, wie der Computer-Tüftler in der Garage. Extrovertierte stehen gerne im Mittelpunkt und können ohne Vorbereitung eine packende Rede vor 100 Leuten halten.

Diese Typen mag es geben, aber es sind auch extreme Klischees.

Die Persönlichkeitsmerkmale Introversion und Extraversion hat wahrscheinlich erstmalig Carl Gustav Jung in seiner Typologie aufgeführt.

Ja, es heisst „Extraversion“, man kann aber auch extrovertiert sagen. Das mache ich lieber, dann spreche ich manchmal kurz von Intros und Extros.

Eine deutlicher Unterschied zwischen Intros und Extros ist, dass Introvertierte ihren Blick eher nach innen richten, Extrovertierte eher nach außen.

Es ist nicht ganz klar, wie viele Introvertierte es gibt. Das schwankt zwischen 30 und 50%. Wahrscheinlich liegen die meisten Menschen in der Mitte, mit einer leichten Tendenz zur einen oder anderen Seite.

Und selbst?

Ich ordne mich selber deutlich auf der Seite der Introvertierten ein.

Schon in der Schulzeit wurde mir das immer wieder unter die Nase gerieben: „Schriftlich gut – mündlich, na ja.“ Auch meine Söhne haben diese Erfahrung gemacht, dass sie für ein größtenteils angeborenes Persönlichkeitsmerkmal bewertet oder gar abgewertet wurden.

Wir Introvertierten sind nicht kontaktscheu und ängstlich, jedenfalls nicht zwangsläufig. Ich betreibe ja auch einen Podcast. Ich bewundere manche Podcaster, die mit ein paar Stichwörtern frei sprechend eine halbe Stunde füllen. Das kann ich nicht.

Also bereite ich mich gut vor und schreibe mir auf, was ich besprechen will. Das ist auf den ersten Blick mühsamer. Auf den zweiten auch. Aber mir gelingt es, Dinge auf den Punkt zu bringen. Und so kann ich hinter einer vermeintlichen Schwäche eine Stärke entdecken.

So macht es auch Sylvia Löhken in ihrem Buch „Leise Menschen – Starke Wirkung“. Sie holt die Stärken in den Vordergrund.

Gehirne von Intros und Extros

Nach Sylvia Löhken besteht der deutlichste Unterschied darin, wie Introvertierte und Extrovertierte ihre Energie regenerieren. Extrovertierte suchen sogar nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Zerstreuung unter Menschen. Introvertierte brauchen eher Alleinsein, vielleicht mit einem guten Buch oder den Austausch zu zweit oder in kleiner Gruppe.

Hirnforscher können Aktivitäten in Gehirnen messen und bildlich darstellen. Demnach sind Gehirne von Introvertierten aktiver und verbrauchen mehr Energie. Besonders trifft das für den frontalen Kortex zu. In diesem entwicklungsgeschichtlich jüngsten Areal werden Entscheidungen getroffen, Handlungen geplant, emotionale Impulse eingeordnet.

Auch auf Reize von außen sprechen Intro-Hirne intensiver an als Extro-Hirne: Sie reagieren empfindlicher auf Umweltreize, sind leichter überstimuliert und brauchen deutlich mehr Energie, um Eindrücke zu verarbeiten.

Silvia Löhken

In unseren Gehirnen ist ein Belohnungssystem angelegt. Bei erfolgreichen Erfahrungen und auch schon bei der Erwartung wird verstärkt Dopamin ausgeschüttet. Das ist ein Botenstoff, der den Körper und die Emotionen in eine freudige Erregung versetzt.

Je stärker unser Gehirn auf Dopamin reagiert oder je mehr Dopamin uns zur Ausschüttung zur Verfügung steht, desto mehr sind wir nach Auffassung einiger Wissenschaftler auf Belohnungen wie Sex, Schokolade, Geld und Status aus.

Susan Cain

Und das trifft wohl für Extrovertierte stärker zu.

In einem Experiment gab Richard Depue, Neurobiologe an der Cornell University, einer Gruppe von Introvertierten und Extravertierten ein Amphetamin, das das Dopaminsystem aktiviert, und stellte fest, dass die Extravertierten stärkere Reaktionen zeigten.

Susan Cain

Bei Introvertierten ist die Erregbarkeit des Belohnungssystems weniger ausgeprägt.

Das erklärt, dass Extrovertierte mehr auf Bestätigung von außen angewiesen sind und Introvertierte sich leichter selbst motivieren können.

introvertiert und extrovertiert und FASD

Das wird dir auch bekannt vorkommen, wenn du Menschen mit FASD vor dir hast. Die einen sind mit ihren Impulsen eher nach außen gerichtet und brauchen viel Aufmerksamkeit. Die anderen wirken still und brauchen viel Zeit, Dinge zu verarbeiten.

Ich kenne keine Hinweise darauf, ob es Wechselwirkungen zwischen FASD und der Entwicklung einer Neigung zu Introversion oder Extraversion gibt. Aber Menschen mit FASD werden auch oft der einen oder anderen Seite zuzuordnen sein. Warum sollte das nicht so sein? Ich vermute, dass sich extrovertierte oder introvertierte Eigenschaften bei FASD sogar verstärken. Möglicherweise neigen Extrovertierte besonders zu emotionalen Ausbrüchen und Introvertierte brauchen verstärkt Rückzug zur Regeneration. Bei unseren Pflegekindern kann ich das jedenfalls so feststellen. Unsere Tochter iist extrovertiert und unser Sohn introvertiert.

Bekommen Introvertierte mit FASD zu wenig Aufmerksamkeit?

Menschen mit FASD, die sich oft sprachlich gut ausdrücken können, werden eher überschätzt. Die Einschränkungen kann man ihnen nicht ansehen. Es ist eine „unsichtbare“ Beeinträchtigung. Daher kann es sein, dass Introvertierte mit FASD manchmal übersehen werden. Dann bekommen sie nicht die nötige Aufmerksamkeit und Hilfen. Einem emotional überschießenden Kind wird man in der Schule eher einen Schulbegleiter an die Seite stellen, als einem unauffälligen, verträumten Kind.

Oft merkt man dann erst, wenn das introvertierte Kind völlig erschöpft nach Hause kommt, welche Energie-Leistung stattgefunden haben muss.

Bücher

Falls dich das Thema Introvertiert/extrovertiert näher interessiert, kann ich dir zwei Bücher empfehlen:

Das eine ist eine umfangreiche Einführung in das Thema. Susan Cain hat die Forschung dazu wirklich durchgekaut und bringt viele interessante Untersuchungen, aber auch ihre eigenen Erfahrungen mit ein.

Susan Cain (2013), Still: Die Kraft der Introvertierten

Sylvia Löhken holt die starken Seiten von Introvertierten in den Vordergrund. In einer Gesellschaft, die oft eher extrovertierte Verhaltensweisen honoriert, ist das auch nötig. Und sogar bei den Hürden versucht sie auf die dahinter stehenden Bedürfnisse zu achten. Von dieser Haltung, von den Stärken auszugehen, können wir uns für den Umgang mit FASD einiges abschauen. Dieses Buch ist ein Arbeitsbuch. Es empfiehlt sich Notizblock und Stift an der Seite liegen zu haben.

Sylvia Löhken (2012), Leise Menschen – Starke Wirkung

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