9. Dezember 2020

FASD und Montessori-Schule

Maria Montessori (1870-1952) hätte FASD verstanden.

In dieser siebten Episode geht es um FASD und Schule, genau genommen um FASD und Montessori-Schule.

FASD und Schule ist ein dickes Thema für alle, die mit FASD zu tun haben.

Was ist FAS(D)?

Für diejenigen, die über das Stichwort Montessori an diese Podcast Episode geraten sind: FAS (Fetales Alkoholsyndrom) bezeichnet eine vorgeburtliche Entwicklungsstörung, die durch Alkohol in der Schwangerschaft ausgelöst wird. Ein Fötus hat kaum eine Möglichkeit Alkohol abzubauen. So schädigt diese toxische Substanz das Zellwachstum, insbesondere die Gehirnentwicklung. FASD (Fetale Alkohol-Spektrum-Störungen) ist eine Sammelbezeichnung verschiedener Unterformen.

Da haben wir echt Glück gehabt

Mit 6 Jahren sollten unsere Zwillinge eingeschult werden. Beide sind von FAS betroffen. Die Namen habe ich übrigens auf Wunsch unserer Kinder geändert.

Ich erinnere nicht mehr genau, wie wir auf die Montessori-Schule gekommen sind, aber wir haben die Zwillinge dort angemeldet. Wir haben einen Kennenlernnachmittag, der von erfahrenen Eltern und Lehrern organisiert worden war, besucht und Aufnahmegespräche geführt. Wir waren von Anfang an sehr angetan von dieser Schule. Eltern, Lehrer und Schulleitung sprachen auf Augenhöhe, mit freundlichem gegenseitigen Interesse. Gelebte Inklusion, jahrgangsübergreifender Schulkassen, sehr individuelle Förderung und keine Noten. Davon waren wir begeistert.

Und diese Schule war noch jung. Dies sollte der 4. Jahrgang sein, der in die Schule hineinwächst. Die Entwicklung der Schule, auch mit tatkräftiger Hilfe, war ein Projekt von Eltern, Lehrern und Schulleitung gleichermaßen.

Obwohl die ersten drei Stufen jeweils 3 Parallelklassen haben, ist die Schule einzügig. Pro Klasse wird etwa ein Drittel neu eingeschult und ein Drittel wechselt in die zweite Stufe.

Also sollten nur 24 oder 25 Kinder aufgenommen werden. Bei einem Vielfachen an Anmeldungen. Dass unsere Zwillinge Plätze bekommen, war irgendwas zwischen Poker und Lotto. Trotzdem haben wir ganz auf diese Karte gesetzt. Intuitiv war es der richtige Ort für unsere Kinder.

Und, ta ta ta ta, Bingo! Treffer!

Montessori Prinzipien

Ich picke mal 3 Prinzipien der Montessoripädagogik heraus, um einen kleinen Eindruck zu geben.

  1. Jahrgangsgemischte Klassen: In den ersten drei Stufen sind jeweils 3 Jahrgänge zusammen, mit fließenden Übergängen, denn manche brauchen 2, manche 4 Jahre für eine Stufe. Die 4. Stufe ist quasi der Abschlussjahrgang, der sich auf Schulabschlüsse vorbereitet.
    • Der große Vorteil ist, dass die Schüler voneinander lernen können. Die neu aufgenommenen Schüler werden immer durch Paten begleitet. So werden die Abläufe und Regeln schnell gelernt. Die Jüngeren lernen von Älteren. Die Älteren lernen Verantwortung zu übernehmen.
  2. „Hilf mir es selbst zu tun“: Das bedeutet, dass den Lehrer*innen eine ganz andere Rolle zukommt, als in den meisten Regelschulen. Sie sind Beobachter und bei Bedarf Berater und Helfer. Die Schüler*innen arbeiten weitgehend selbständig mit angemessenem Material, dass auch oft eine selbständige Fehlerkorrektur ermöglicht. Das gilt besonders für die Zeiten von sogenannter Freiarbeit.
  3. Sensible Phasen: Wer mal beobachtet hat, wie Kinder Stehen und dann die ersten Schritte lernen, hat eine Idee davon, mit welcher Energie sie etwas neues lernen. Solche Phasen wirken dann wie Schübe. Maria Montessori hat durch intensive Beobachtung festgestellt, dass auch Lernen im Schulalter in solchen Schüben verläuft. Schreiben lernen, Eroberung von Zahlenräumen beim Rechnen usw. Darauf zu Vertrauen, dass diese sensiblen Phasen von den Kindern in ihrem eigenen Tempo angezeigt werden und nicht durch Lehrpläne aufgedrückt werden können, braucht einiges an Mut. Den Mut brauchen Lehrer*innen und Eltern gleichermaßen.

Das waren jetzt drei Prinzipien, die wir in dieser jungen wachsenden Schule auch tatsächlich erlebt haben. Mit allen Einschränkungen, z.B. durch Vorgaben vom Schulamt, konnten wir den Geist von Maria Montessori spüren.

Ein Beispiel wie sich die jungen Forscher*innen etwas erobert haben, kommt mir immer wieder in den Sinn:

Die Grundlagen des Rechnens werden mit Perlen, einzelnen oder z.B. 10 auf einen Draht gezogen, „handgreiflich“ erfahren. Meist zu zweit werden dann Perlen auf einem Teppichstück so gelegt, hinzugefügt oder wieder subtrahiert, wie es das Arbeitsblatt vorsieht.

In einer Abholsituation habe ich gesehen, wie zwei Schüler 1000 solcher Perlen im Schulflur ausgelegt haben. Bei den Zehnern waren farbige Zettelchen ausgelegt, bei den Hundertern größere. Andere gingen respektvoll einen Bogen um diesen meterlangen Zahlenstrahl herum. Die Forscher waren gerade fertig geworden und strahlten zufrieden. Ich bin sicher, sie werden lebenslang ein bildliches Verständnis mitnehmen, was 1.000 bedeutet, später auch 10 hoch 3. Der Transfer. Dass dann 10.000 bis knapp zum Bahnhof gegenüber gehen würde, liegt dann auch nicht mehr fern.

FAS Diagnose

Erst 3 1/2 Jahre nach Schulbeginn haben unsere Zwillinge in Walstedde bei Dr. Feldmann eine FAS Diagnose bekommen. Ich kann es mir aus heutiger Sicht gar nicht erklären, warum wir diese Diagnose erst dann eingeholt haben.

Bis zu unserer eigenen Initiative hat uns kein Kinderarzt, keine Psychologe und Psychotherapeut, kein Kinder-Psychiater, keine Lehrer*in, keine Sonderpädagog*in, keine Jugendamtsmitarbeiter*in und kein Pflegefamilien-Berater darauf hingewiesen.

Das war vor acht Jahren. Ich bezweifle, dass inzwischen die Kenntnisse in Fachkreisen sehr gewachsen sind.

Montessori-Schule und FASD

Der Verein FASD-Deutschland gibt einen Flyer FASD und Schule heraus.

Auf der Rückseite steht eine hervorragende Zusammenfassung, was die Schule tun kann:

  • sich über FASD informieren – anerkennen, dass FASD eine irreversible Hirnschädigung ist und nicht auf Erziehungsfehlern oder Böswilligkeit beruht
  • umdenken! Überprüfen, ob die pädagogische Haltung und -Handlung für den Menschen mit FASD passend ist
  • Überforderung erkennen und vermeiden (z.B. durch individuelle Pausen, kleine Gruppen, evtl. Schulbegleiter)
  • vorausschauend, deeskalierend handeln
  • strukturierten und visualisierten Tagesablauf (möglichst gleichbleibend) bieten
  • Lerninhalte kleinschrittig vermitteln, viele Wiederholungen
  • einfache, klare Sprache benutzen
  • „unerwünschtes“ Verhalten nicht persönlich nehmen; jederzeit bereit sein, einen Neuanfang zu machen
  • wertschätzende Zusammenarbeit mit den Eltern

Ich kann dir nur raten, wenn dein Kind von FASD betroffen ist, dies Punkt für Punkt mit den Lehrer*innen und der Schulleitung durchzugehen.

Der Montessori-Schule Münster kann ich hier ein gutes Zeugnis ausstellen. Teilweise wird das an den gelebten Montessoriprinzipien liegen, teilweise an einem langen, manchmal mühsamen Prozess des gemeinsamen Lernens.

In der Liste steht das Wort „Schulbegleiter“ ein bisschen versteckt in Klammern. Im Nachhinein würde ich die Schulbegleiterinnen unserer Kinder als besondere Schlüsselfiguren sehen. Die wichtigste Funktion war die der Übersetzerin. Besonders überschießendes Verhalten oder Rückzug als Reaktion auf den schmalen Grad zwischen Über- und Unterforderung, musste immer wieder gelenkt werden.

Da packe ich mich auch an die eigene Nase, dass ich mich viel zu spät über FASD informiert habe. Friederike hatte ab Stufe 2, bzw. 4. Klasse, eine Schulbegleiterin an der Seite, Michael im Nachhinein viel zu spät erst für die letzten 3 Jahre an der Schule. Michael wirkte ruhiger und angepasster und damit weniger auffällig und hat sich oft in seine Traumwelt weggebeamt. Eine wichtige Integrationsfigur für Michael war eine Lern- und LRS-Therapeutin, aber außerhalb der Schule.

Bei aller Ausrichtung der Schule auf „Inklusion“, halte ich das Gelingen für unsere Kinder ohne Schulbegleiterinnen für kaum denkbar.

Ich bin den Jugendamts-Mitarbeiter*innen dankbar, dass sie auf unsere Anträge, wohlwollend Unterstützung und Finanzierung bewilligt haben.

Grenzen der Schule

Die Struktur und die Abläufe in der Montessori-Schule sind sehr komplex. Da gibt es Wechsel zwischen unterschiedlichen Lernumfeldern: Freiarbeit alleine oder zu zweit, Kleingruppen, Fach-Unterricht oder Besprechungen im Klassenverband usw. Diese Übergänge sind für FASD Betroffene „Gift“. Zudem gibt es etwa alle drei Jahre andere Lehrer*innen in der neuen Stufe.

Unsere Kinder hatten zusätzlich das Pech mehrmals Wechsel dieser Bezugspersonen durch Schwangerschaften und Erkrankungen zu erleben. Das haben wir regelrecht als Einbrüche erlebt.

Die Montessori-Schule muss die Anforderung der offiziellen Lehrpläne erfüllen. Es werden landesweite Vergleichstests durchgeführt. Und je mehr es auf Schulabschlüsse und Zeugnisse für weiterführende Schulen zugeht, zieht auch der zunehmende Druck, unter dem Schüler in unserer Gesellschaft stehen, in die Montessori-Schule ein. Die Leistung verglichen, manchmal hart, manchmal ausgrenzend. Schüler mit Beeinträchtigung bekommen bisweilen das Gefühl, hinten anzustehen. Gelungene Inklusion nimmt ab.

Praktische Orientierung

Ich möchte nicht mit dieser kritischen Sicht enden.

Die lebenspraktische Orientierung war für unsere Kinder klasse. Zum Beispiel sind sie in „Fit for Live“ einkaufen gegangen und haben miteinander gekocht. Beim Sexualkunde-Unterricht, ging’s zum Einkauf von Hygiene-Produkten. Auch gehörten besonders für die „Förderkinder“, mehrere Berufspraktika zum Programm. Eine wertvolle Erfahrung für alle war die wöchentliche Mitarbeit auf dem Schulbauenhof Emshof. Vom Setzen der Saatkartoffeln bis zum brutzeln der Pommes, wurde das Selbstverständliche mit allen Sinnen erfahren. Das Sich-in-der-Praxis-ausprobieren ist eine wertvolle Ressource in der schwierigen Berufsorientierung.

Danke Montessori-Schule Münster und alle Beteiligten!

Ich habe für die Vorbereitung dieser Podcast Episode viel länger als gedacht gebraucht. Immer wieder bin ich ins Grübeln und Erinnern gekommen. Die letzten 11 Jahre sind an mir vorbei gezogen. Unsere Zwillinge Friederike und Michael habe im Sommer 2020 die Schule abgeschlossen. Die meisten geplanten und traditionellen Abschiedsrituale sind im Corona-Jahr ausgefallen.

Für mich als Vater habe ich diese Gelegenheit genutzt, noch ein bisschen mehr mit dieser Zeit abzuschließen. Das stimmt mich schon ein bisschen wehmütig.

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